Wie jedes Jahr liegt in Raiano kurz vor dem ersten Juni Wochenende Festtagsstimmung in der Luft. Die Vorbereitungen laufen im ganzen Dorf auf Hochtouren, denn die „Sagra delle Ciliegie“, das alljährliche Kirschfest, steht vor der Tür.
Die Sagra delle Ciliegie ist DAS Event des Jahres, das auch aus den umliegenden Örtlichkeiten zahlreiche Besucher nach Raiano lockt.
Die Sagra als dörfisches „Fressfest“ ?
Wer hier an ein schnödes Dorffest mit Blaskapelle denkt, der hat sich geschnitten.

Zeichnung von E. Benny (1991) © sagradelleciliegieraiano.it
Immerhin haben wir es hier mit einer Sagra zu tun: Einem zünftigen italienischen Dorffest nach allen Regeln der Kunst.
Das Wort Sagra stammt vom lateinischen sacrum (heilig) ab. Und heilig ist die Sagra den Italienern tatsächlich! Denn eine Sagra ist mehr als einfach irgendein Volksfest, bei dem sich alles um Speis und Trank dreht.
Sagra bedeutet Leben kehrt ein. Denn die Straßen füllen sich mit Menschen (alt wie jung), Traditionen, Kostümen und mit Musik.
Es herrscht Ausnahmezustand und der Alltag, der gerade für die einfache Landbevölkerung oft hart und beschwerlich war und ist, rückt in den Hintergrund. Zumindest für eine Weile…
Stattdessen wird gemeinsam getanzt, gesungen und gegessen – bis spät in die Nacht hinein.
Kirschen und Bohnen, das Gold der Bauern
Denn im Vordergrund steht natürlich, wie könnte es im Belpaese auch anders sein, das leibliche Wohl. Egal, ob Lamm, Rotwein, Wildschwein, Fisch, Käse, Weizen, Pasta, Artischocken oder was auch immer. Fast jede Region, jedes Dorf hat seine eigene Sagra rund um eine Delikatesse.
Ich gebe zu, bei Kirschen denkt man weniger an eine mediterrane Köstlichkeit.
Für Raiano, ein einfaches Dorf in den Abruzzen, gehörten traditionell Kirschen und Bohnen zu den wichtigsten Handelswaren. Daher wurden ihnen auch die großen Volksfeste der Ortschaft im Peligna-Tal gewidmet.
Während die Sagra del Fagiolo schon seit ein paar Jahren nicht mehr veranstaltet wird, hat zumindest das Kirschfest die Jahrzehnte überdauert. Dieses Jahr geht es schon in die 63. Runde.
Kirschkerne als „Waffe“ gegen ungebetene Gäste
Warum ausgerechnet Kirschen, bei all den Leckereien mit denen die Abruzzen sich (zu recht!!) rühmen?
Dafür müssen wir etwas weiter in die Vergangenheit blicken, als Kirschen noch selten und kostbar waren. Im Mittelalter zum Beispiel galten sie als Delikatesse, die sich nur feine Leute leisten konnten.
Daher kommt auch die Redewendung „mit jemandem ist (nicht) gut Kirschen essen.“
„Die Kirsche wurde vom Feinschmecker und Feldherrn Lukullus in Italien eingeführt. Von dort verbreitete sich das Edelobst langsam nach Norden und waren im Mittelalter und der frühen Neuzeit noch wenig verbreitet. Dementsprechend waren Kirschen selten und teuer, man bekam sie höchstens bei einem Mahl eines hohen Herrn. Solche Kontakte waren für Bürgerliche durchaus risikoreich, da Adlige für rasche Stimmungswechsel, Undankbarkeit und Überheblichkeit bekannt waren. Entdeckten sie während des Kirschenessens jemanden in der Runde, der ihrer Meinung nach nicht dazugehörte, so wurden diese Fremdlinge mit Kirschkernen und -stielen bespuckt, bis sie die Flucht ergriffen. Mit Adligen war wirklich nicht gut Kirschen essen.” sinnvollgastro.ch
Gewusst?
Doch auch lange nach dem Mittelalter waren die Kirschen für die Bauern in Raiano kostbar.
Schließlich war der Verkauf der Kirschen, die hier im Peligna-Tal zahlreich wachsen, die erste Gelegenheit nach einem harten, schneereichen Winter endlich wieder etwas Geld in die Kasse zu bekommen.
Die Ursprünge der Sagra delle Ciliegie
Ursprünglich wurde die Veranstaltung 1946 anlässlich des Festes von San Venanzio, dem Schutzheiligen des Dorfes, ins Leben gerufen und fand daher im Mai statt. Deshalb wird die Sagra unter anderem auch Maggiolata (Maifest) genannt.
Vier Jahre später wurde sie dann zu einer unabhängigen Veranstaltung. Über die Jahre wurde das Programm immer mehr ausgedehnt und schließlich auf mittlerweile drei Tage ausgeweitet.
Anfangs wurden die Feierlichkeiten jedoch etwas einfacher gehalten:
Ottaviano Giannangeli – der Ziehvater der Sagra delle Ciliegie
Abgesehen von der Dauer und dem Ausmaß der Sagra, gibt es dieses Mal aber noch einen anderen Unterschied zu den Vorjahren.

Grazie Ottavio – wie ihn die Raianesi nennen
In diesem Jahr findet die Sagra zum ersten Mal ohne ihren „Ziehvater“, Ottaviano Giannangeli, statt, der im letzten Dezember im Alter von 94 Jahren verstorben ist.
Seines Zeichens Dichter, Romanist, Dialektologe, Literaturkritiker und Eckfeiler der abruzzischen Regionalkultur; aber allem voran ein „Raianese d.o.c.“. Zeit seines Lebens hat er sich dafür eingesetzt die Sagra delle Ciliegie, Raiano und die Abruzzen auch außerhalb der Landesgrenzen bekannt zu machen. Nicht nur seine Dichtung, sondern sein ganzes Lebenswerk ist durch und durch von der Liebe zu seiner Heimat und Landsleuten geprägt.
Um ihm gebührend für sein unermüdliches Engagement – nicht nur in Bezug auf die Sagra – zu danken gibt es dieses Jahr, im Rahmen der Sagra delle Ciliegie, ihm zu Ehren eine Ausstellung. So ist sein Erbe lebendig und er dennoch irgendwie dabei.
Die wichtigsten Programmpunkte der Sagra delle ciliegie
Statuen werden bei den Feierlichkeiten des Kirschfestes ausnahmsweise nicht durch die Gegend getragen – wie zum Beispiel am Ostersonntag in Sulmona oder beim Schlangenfest in Cocullo.
Trotzdem ist die Stimmung ausgelassen. Das Dorf ist festlich geschmückt, Stände werden aufgebaut, die neben Kirschen noch allerhand anderer Kleinigkeiten verkaufen. Wer was auf sich hält, schmeißt sich in Schale und trägt traditionelle Kostüme. Alles eingerahmt von Chören und Musikern die durch die Straßen ziehen.
Was aber keinesfalls fehlen darf ist der große Festumzug am Sonntag. Ähnlich wie bei uns am Rosenmontag in Köln, oder dem Karneval der Kulturen in Berlin, ziehen bunt geschmückte Wagen durch die Hauptstraße von Raiano. Voller Stolz werden jene Meisterwerke präsentiert, die zuvor von den verschiedenen Vereinen, Organisationen, Vierteln oder Schulen des Ortes in wochenlanger Arbeit vorbereitet wurden.
Die Sagra: Der Stolz der Dorfbevölkerung
Ob Traktor, oder Eselkarren, lebensgroße Statuen oder der Nachbau von Kathedralen – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Früher war dieser Umzug zugleich eine Art Schönheitswettbewerb. Der schönste Karren gewann eine Trophäe. Viel wichtiger als die Trophäe ist jedoch der Einsatz, der zum Gelingen des Festes beigetragen wird; Ehrensache!
Denn alles in allem geht es dann doch um weitaus mehr als um die Trophäen, Kirschen, Musik, Tanz oder rote Halstücher. Im Zentrum der Sagra steht das Miteinander und gelebtes Gemeinschaftsgefühl; Zusammenhalt sowie eine tiefe Verbundenheit mit dem Territorium, dem Land und den Früchten, die es schenkt.
Eine Sagra ist zur Schau tragen und sich Besinnen zugleich. Sie zelebriert die ökonomisch und kulturellen Schätze der Region und somit auch die eigene Identität ihrer Bewohner, die fest in ihr verwurzelt ist.
Damals wie heute.
Complimenti! Das ist einer der besten Artikel, die ich je über eine Sagra gelesen hab! ♡
Dank schoen fur ihre Artikel ! Ich liebe Raiano !